Lohnt es sich noch, arbeiten zu gehen?
Schneller Einstieg ins Thema
Löhne rauf statt Bürgergeld runter
Die Erhöhung des Bürgergeldes zum 1. Januar 2024 erfolgte auf der Basis eines Urteils des Bundesverfassungsgerichts und gleicht lediglich die Preissteigerung aus. Jedoch kursieren seit einiger Zeit in den (sozialen) Medien Rechenbeispiele, die belegen sollen, dass man sich mit Bürgergeld mehr leisten kann als mit Erwerbsarbeit. Einem Faktencheck unter Einbeziehung aller Daten hält kein Beispiel stand – wer arbeitet, hat am Ende des Monats immer mehr Geld!1WDR, David Zajonz: Faktencheck Bürgergeld: Warum es sich doch lohnt, arbeiten zu gehen. 14.11.2022. Link
Ob das Einkommen für ein gutes Leben reicht, steht auf einem anderen Blatt: Bundesweit erhalten 2 Mio. Menschen anteilig Bürgergeld zum Aufstocken, da sie zu wenig verdienen!2DIW Berlin (Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung), Blog Marcel Fratzscher: Die Populistische Debatte um das Bürgergeld. 04.10.2023. Link Diese gezielte Neiddebatte um ein vermeintlich zu hohes Bürgergeld lenkt von den eigentlichen Problemen ab. Und sie verletzt Menschen, die vom Existenzminimum leben und auf deren Rücken die Debatten geführt werden. Es muss stattdessen um angemessene Löhne, mehr Tarifverträge und um die Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns gehen.
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Ja, Arbeit bringt mehr Geld ein als der Bezug von Bürgergeld. Das belegen Zahlen eindeutig.
Seitdem die Einführung des Bürgergeldes zum Januar 2023 sowie ein Jahr später seine Erhöhung angekündigt wurde, gibt es zahlreiche Rechenbeispiele, die zeigen sollen, dass mit Bürgergeld sogar mehr Geld aufs Konto kommt, als durch Erwerbsarbeit. Doch diese Beispiele sind oft falsch berechnet und halten einer Überprüfung nicht stand.3WDR, David Zajonz: Faktencheck Bürgergeld: Warum es sich doch lohnt, arbeiten zu gehen. 14.11.2022. Link In Einzelfällen soll das Nettoeinkommen + Kindergeld in der Rechnung unterhalb des Bürgergeldes liegen, wenn eine Familie nur ein Einkommen aus einem Mindestlohn-Job hat. Allerdings werden dabei zwar die Kosten der Unterkunft mit eingerechnet, die beim Bürgergeld übernommen werden, weitere Sozialleistungen für Menschen mit geringem Einkommen, wie Wohngeld und Kinderzuschuss, aber nicht.4Focus Online, Christoph Sackmann: Bürgergeld statt Mindestlohn-Job? Gehalts-Check zeigt, ob sich Arbeit lohnt. 19.09.2023. Link Die Berechnung ist also unvollständig. Deutlicher wird es, wenn alle Komponenten eingerechnet werden: Dann haben selbst mit Mindestlohn die betreffenden Singles und Paare – mit oder ohne Kinder – mehrere 100 Euro mehr in der Tasche als beim Bezug von Bürgergeld ohne Arbeitseinkommen.5WSI (Wirtschafts- und sozialwissenschaftliches Institut), Bettina Kohlrausch: Wie sieht die Relation von Mindestlohn und Bürgergeld aus? Das WSI hat den Lohnabstand für verschiedene Haushaltskonstellationen nachgerechnet. 19.10.2023. Link Zu diesem Ergebnis kommt auch das eher Unternehmer-freundliche ifo-Institut: „Sofern alle Sozialleistungen in Anspruch genommen werden, hat jemand, der arbeitet, praktisch immer mehr Geld als jemand, der nicht arbeitet.“ ZEIT Online, Mark Schieritz: Lohnt sich Arbeit? 20.09.2023. Link
Hier einige Beispielrechnungen:6Diese und weitere Berechnungen findet ihr hier: DGB (Deutscher Gewerkschaftsbund): Bürgergeld hat Hartz IV abgelöst. 18.10.2023. Link Auch Berechnungen anderer Institutionen kommen zu ähnlichen Ergebnissen.
Arbeitnehmer*in, alleinstehend (38-h-Woche, Mindestlohn von 12,41 €) | Bürgergeldempfänger*in, alleinstehend |
Brutto: 2.044 € Netto: 1.499 € Wohngeld: 16 € | Regelsatz: 563 € Warmmiete: 427 € |
Verfügbares Einkommen: 1.515 € | Verfügbares Einkommen: 990 € |
Paar, 2 Kinder (8 + 12 Jahre alt), ein Verdienst (38-h-Woche, Mindestlohn von 12,41 €) | Paar, 2 Kinder (8 + 12 Jahre alt), im Bürgergeldbezug |
Brutto: 2.044 € Netto: 1.632 € Kindergeld: 500 € Kinderzuschlag: 548 € Wohngeld: 595 € | Regelsatz: 1.792 € Warmmiete: 817 € |
Verfügbares Einkommen: 3.752 € | Verfügbares Einkommen: 2.609 € |
Dabei darf aber nicht verschwiegen werden, dass Millionen von Menschen in Deutschland keine Sozialleistungen in Anspruch nehmen, obwohl sie ihnen zustehen. Sei es Bürgergeld, Wohngeld oder Grundsicherung im Alter: ein Drittel bis die Hälfte der Anspruchsberechtigten verzichtet auf die Unterstützung. Gründe dafür sind oft die komplizierten Anträge und fehlendes Wissen, welche finanziellen Hilfen es in welchen Fällen gibt. Vor allem aber hindert viele die gesellschaftliche Stigmatisierung von Leistungsbeziehenden, denen oft pauschal Arbeitsverweigerung unterstellt wird.7Frankfurter Rundschau, Alexander Eser-Ruperti: „Wie Bittsteller“: Millionen Bürger verzichten auf Sozialleistungen. 11.01.2023. Link Interviews in Thüringen belegen, dass die Abgrenzung zu Leistungsbezieher*innen bzw. das Gefühl, die persönlichen wirtschaftlichen Schwierigkeiten auch ohne staatliche Unterstützung zu meistern, wichtig für das Selbstwertgefühl der Befragten sind. Ernst-Abbe-Hochschule Jena: Neue Studie zur Nichtinanspruchnahme von Grundsicherungsleistungen in Thüringen und Deutschland. 17.11.2023. Link Wer den Anspruch auf Sozialleistungen nicht nutzt, kann dann trotz Erwerbsarbeit deutlich weniger Geld zur Verfügung haben als eine Person, die Bürgergeld bezieht. Eine Absenkung des Bürgergeldes ist dafür aber keine Lösung. Stattdessen braucht es mehr soziale Gerechtigkeit, ein Ende der Abwertung gesellschaftlicher Gruppen und eine gerechtere Steuerpolitik. Der finanzielle Beitrag von Reichen und Unternehmen an unserer Gesellschaft, der Daseinsvorsorge und der Infrastruktur muss erhöht werden. Im öffentlichen Diskurs und den politischen Diskussionen werden sie bisher viel zu selten in die Verantwortung genommen.
2023 bezogen knapp 4 Mio. Menschen Bürgergeld, die erwerbsfähig waren (weitere gut 1,5 Mio. Bezieher*innen sind nicht erwerbsfähig).8Statista: Bürgergeld: Leistungsempfänger von Arbeitslosengeld II und Sozialgeld von 2013 bis 2022 im Jahr 2023. 02.11.2023. Link Die Hälfte der erwerbsfähigen Empfänger*innen von Bürgergeld ist in Erwerbsarbeit, verdienen dabei aber so wenig, dass sie ihr Einkommen zusätzlich mit Bürgergeld aufstocken müssen.9DIW Berlin (Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung), Blog Marcel Fratzscher: Die Populistische Debatte um das Bürgergeld. 04.10.2023. Link Auch die Teilnahme an einer Qualifikation oder anderen Maßnahmen des Jobcenters sowie Kindererziehung oder die Pflege von Familienangehörigen mangels Betreuungsangeboten führt dazu, dass viele Menschen eigentlich erwerbsfähig sind, aber Bürgergeld beziehen müssen. Es gibt sicher auch Personen, die nicht arbeiten wollen und wirklich lieber zum Jobcenter als auf Station, ins Logistikzentrum oder ins Büro zu gehen – ihre Zahl ist aber im Vergleich zu den anderen zu vernachlässigen. Die Erzählung der faulen Arbeitslosen hat noch keine Studie bestätigen können.10MDR: Mehr Geld für Arbeitslose: Lohnt sich Arbeit noch? 04.02.2023. Link Die Abwertung von Gruppen als „nutzlos“ oder „kostenverursachend“ für die Gesellschaft – gemeint sind damit meist Menschen mit Behinderungen, Wohnungslose oder eben Empfänger*innen von staatlichen Sozialleistungen – bezeichnet man übrigens als Sozialdarwinismus. Dabei handelt es sich um einen wesentlichen Bestandteil rechtsextremer Weltanschauungen.11Bundeszentrale für politische Bildung, Manuela Lenzen: Dossier Rechtsextremismus. Was ist Sozialdarwinismus? 20.10.2015. Link Auch Vertreter*innen der AfD hängen diesem Konzept an. Der Vorsitzende der AfD in Sachsen, Jörg Urban, lud 2020 mit Markus Krall einen Redner ein, der die Abschaffung des Wahlrechts für Bezieher*innen von Transferleistungen vorschlug. Urban wollte diese Idee gern weiter bearbeiten. Frankfurter Rundschau, Katja Thorwarth: Info-Abend der AfD Sachsen: Wer Arbeitslosengeld bekommt, soll nicht wählen dürfen. 04.03.2020. Link
Die Höhe des Bürgergeldes wird nach dem Regelbedarfsermittlungsgesetz (RBEG) berechnet und bezieht sich u.a. auf Verbraucherpreise – die Erhöhung soll also lediglich die Inflation ausgleichen. Verabschiedet wurde das Gesetz 2020, unter einer CDU-geführten Regierung. Die aktuelle Bundesregierung entschied zusätzlich, dass die Regelsätze kurzfristiger an steigende Preise angepasst werden – auch hier gab die CDU ihre Zustimmung.12BMAS (Bundesministerium für Arbeit und Soziales): Regelbedarfsermittlungsgesetz 2021. Link Tagesschau, Lutz Polanz und Andreas Spinrath: Warum sich Arbeit trotzdem lohnt. 19.10.203. Link Selbst konservative Medien wie der Focus oder arbeitgebernahe Einrichtungen wie das Institut der Deutschen Wirtschaft sehen die Erhöhungen des Bürgergeldes nicht als Problem: „Die Bürgergelderhöhung ging einher mit Anhebungen des Wohngelds, der Kinderzuschläge und des Kindergeldes und einem höheren Grundfreibetrag, daher ist das Lohnabstandsgebot gewahrt. Grundsätzlich sind Anhebungen in Ordnung, weil Inflation und explodierende Mietpreise einkommensschwache Haushalte besonders treffen.“13Zitat von IW-Direktor Michael Hüther: IW (Institut der deutschen Wirtschaft): Lohnt sich das Bürgergeld mehr als Arbeit? 13.10.2023. Link Vgl. auch Focus Online, Christoph Sackmann: Bürgergeld statt Mindestlohn-Job? Gehalts-Check zeigt, ob sich Arbeit lohnt. 19.09.2023. Link
Das Problem liegt, das zeigt die große Zahl an Aufstocker*innen, nicht an der Höhe des Bürgergeldes – sondern an der zu geringen Höhe der Löhne. Die wiederum ist vor allem eine Folge der immer weiter abnehmenden Tarifbindung und damit eine Folge einer Schwächung der Verhandlungsmacht der Gewerkschaften. Am Beispiel Thüringen wird dies deutlich: Die Bruttomonatsverdienste für Beschäftigte mit Tarifvertrag lagen im Jahr 2019 bei durchschnittlich 3.360 €. Hingegen verdienten Beschäftigte ohne Tarifvertrag – im selben Zeitraum – nur durchschnittlich 2.550 € im Monat.14WSI (Wirtschafts- und sozialwissenschaftliches Institut), Thorsten Schulten/Reinhard Bispinck/Malte Lübker: Study Nr. 26. Tarifverträge und Tarifflucht in Thüringen. September 2021. PDF Die geringe Tarifbindung führt dazu, dass die Reallöhne in den letzten Jahren gesunken und erst im 2. Quartal 2023 mit 0,1% nur leicht wieder gestiegen sind.15Destatis (Statstisches Bundesamt): Reallohnindex. Link Wenn also gut die Hälfte der Bevölkerung das Gefühl hat, Arbeit lohne sich nicht mehr, mag sie damit durchaus in Teilen Recht haben. Ein ähnlich großer Anteil der Bevölkerung lehnt aber gleichzeitig eine Erhöhung des Bürgergeldes ab.16Focus Online: Mehrheit der Deutschen hält Arbeit nicht für lohnenswert. 27.09.2023. Link Der Versuch des gegenseitigen Ausspielens von Arbeitslosen und Beschäftigten im Mindestlohnbereich ist grundsätzlich falsch, verfängt aber leider viel zu oft. Stattdessen wäre ein gemeinsames Streiten für gerechtere Löhne, die schrittweise Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns und auskömmliche Sozialleistungen ein Ansatz, der den sozialen Frieden im Blick hat.
Wird der Sozialstaat aber zu teuer? Auch diese Frage lässt sich anders beantworten als mit einer Forderung nach einer Kürzung des Bürgergeldes. Die schon angesprochene Stärkung der Tarifbindung, die beispielsweise durch eine Vergabe öffentlicher Aufträge nur an tarifgebundene Unternehmen verbessert werden könnte, führt zu höheren Löhnen und weniger Aufstocker*innen im Bereich Bürgergeld. Aber auch die Einnahmeseite des Staates lässt sich verbessern: Die Wiedereinführung einer Vermögensteuer und auch eine Reform der Erbschaftsteuer könnte diejenigen mehr in die Pflicht nehmen, die aufgrund ihrer Vermögenssituation finanziell auch mehr für die Gesellschaft leisten können. Zudem mildert es die soziale Ungleichheit in Deutschland etwas ab. Gleichzeitig lassen sich geringe Einkommen durch ein gerechteres Steuerkonzept stärken, so dass auch hier weniger Bezieher*innen von Sozialleistungen entstehen. Durch eine Anhebung des Steuerfreibetrages und einen gleichmäßigen Anstieg der Steuerprogression werden insbesondere kleine und mittlere Einkommen entlastet. Auch dies ein Beitrag für mehr soziale Gerechtigkeit.17DGB: Das DGB-Steuerkonzept: Beschäftigte und Familien entlasten. 11.07.2023. Link
Detaillierte Rechenbeispiele und alle wichtigen Infos, was sich beim Bürgergeld gegenüber Hartz IV geändert hat, wer es bekommt und was angerechnet wird, findet ihr hier.
Argumente für eine Diskussion
- Der Lohnabstand ist nicht gesunken, sondern sogar gewachsen: Der Mindestlohn wurde seit der Einführung 2015 um 46% erhöht, Hartz IV / Bürgergeld in der gleichen Zeit um 41%.
- Kursierende Rechenbeispiele, das Bürgergeld mehr auf’s Konto bringe als Erwerbsarbeit, sind oft schlicht falsch oder beziehen nicht alle Komponenten in der komplexen Berechnung aus Einkommen (und dessen Anrechnung beim Bürgergeld), Steuern und möglichen Sozialleistungen ein.
- Nicht das Bürgergeld ist zu hoch, sondern die Löhne zu niedrig. Das Bürgergeld soll das verfassungsrechtlich vorgegebene Existenzminimum abdecken. Arbeit sollte aber nicht nur zum Existieren reichen, sondern für ein gutes Leben – die Stellschraube, an der gedreht werden muss, ist also die Höhe der Löhne, nicht des Bürgergeldes.
- Um Lücken im Bundeshaushalt auszugleichen, fordern CDU und FDP eine Kürzung des Bürgergeldes. Gleichzeitig gehört fast ein Fünftel des in Deutschland vorhandenen Vermögens nur 0,1% der Bevölkerung. Eine Vermögenssteuer gibt es seit den 1990er Jahren nicht mehr, auch der Steuersatz auf nicht an Aktionär*innen verteilte Gewinne sank um die Hälfte.18Hans Böckler Stiftung: Deutsche Milliardenvermögen: Superreiche besitzen mindestens 1,4 Billionen Euro, Steuersätze seit Mitte der 1990er drastisch reduziert. 11.12.2023. Link Wir müssen über Vermögensverteilung reden!
- Das Märchen vom faulen Arbeitslosen hält sich seit Jahren – ohne tatsächliche Grundlage, von einer paar Einzelbeispielen in den Medien einmal abgesehen. Stattdessen belegen zahlreiche Studien, wie wichtig Arbeit für die Mehrheit der Menschen ist, dass sie Sinn stiftet, den Selbstwert hebt, Kontakte fördert. Arbeitslosigkeit dagegen macht häufig krank.
- Bezieher*innen von Sozialleistungen, besonders Bürgergeld, wird in unserer Gesellschaft oft ein geringerer Wert zugesprochen. Die Angst vor dem sozialen Abstieg und der Abhängigkeit von Transferleistung bringt deshalb viele dazu, auch prekäre Jobs im Niedriglohnsektor zu akzeptieren. Die Arbeitgeber freut’s.19Wer sich mehr mit dem Thema beschäftigen will: Deutschlandfunk Kultur: Interview mit Anna Mayr, Arbeitslose – verachtetet und gebraucht. 14.10.2020. Link
Das Projekt „Connect – Vielfalt durch Teilhabe“ wird im Rahmen des Bundesprogramm „Betriebliche Demokratiekompetenz“ durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales gefördert und durch das Bundesamt für Flüchtlinge und Migration administriert.
Diese Veröffentlichung stellt keine Meinungsäußerung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales und des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge dar.